
Zwei Monate nach der Rhetorikschlacht im Geheimdienstausschuss lichtet sich der wortgewaltige Nebel um die Fakten und die glorreichen Sieger sind der Täuschung überführt. Besonders irritierend: Unter der Flagge des arglosen E-Government-Gesetzes verschafft sich der Berliner Landesgeheimdienst jetzt Big-Brother-Techniken wie die automatische Gesichtserkennung.
Erfolgreiche Verharmlosung der neuartigen Fähigkeiten von Big Data
Als Bernd Palenda, Chef des Berliner Landesgeheimdienstes, mit „alternative Fakten“ und „Mythen“ die ganz große Schublade aufmachte, um die Warnung der AfD-Abgeordneten vor dem geplanten Dokumentenmanagementsystem („mächtiger als die Rasterfahndung“) darin verschwinden zu lassen, konnte er sich der Zuneigung des Publikums gewiss sein. Auch wenn die beiden Ausdrücke keinen Eingang ins Inhaltsprotokoll fanden, führten eben diese zum erleichterten Aufatmen der übrigen Abgeordneten: Zum Glück nichts dran an den Vorwürfen der AfD-Querulanten! Wie hätte man sonst auch die aus einem Five-Eyes-Land gelieferte Big-Data-Gesinnungsdatenbank den Wählern erklären sollen? So jedoch konnte die halbe Million Euro für den Aufbau ohne größeres Aufsehen bewilligt werden. (Wir berichteten.)
Dass man sich (womöglich bereitwillig) an der Nase herumführen und die neuartige Technik als harmloses „Büroablaufsystem“ verkaufen ließ, steht inzwischen fest, nachdem der Senat auf die Schriftlichen Anfragen der untergebutterten AfD-Abgeordneten Stellung bezog und die Punkte der ursprünglichen Kritik als zutreffend bestätigte. Die Brisanz wird inzwischen schon von der überregionalen Berichterstattung aufgegriffen. Im einzelnen:
- Die Datenbank ermöglicht eine Volltextsuche mit komplexen Bedingungen. (Diese Technik entspricht der traditionellen Rasterfahndung.)
- Darüber hinaus speichert das Dokumentenmanagementsystem auch Bilder und Multimedia und der Geheimdienst ist rechtlich dazu befugt, auf diesen Inhalten mit einer Gesichtserkennungssoftware nach Personen zu suchen. Diese Technik ist in der Tat um eine Vielfaches mächtiger als die Rasterfahndung.
- Die neuartigen Speicher- und Auswertungsmöglichkeiten betreffen nicht nur Terroristen und Gewalttäter. Sie werden explizit auch bei friedlichen Personen ab 14 Jahren eingesetzt (Gesinnungsdatenbank).
- Der Senat bestreitet, dass ein Zugriff des Bundesgeheimdienstes auf das Berliner Dokumentenmanagementsystem vorgesehen ist. Das steht allerdings im Widerspruch zur Geheimdienstreform 2015: „Zur sachgerechten Aufgabenerledigung durch den Verfassungsschutz – einschließlich der umfassenden Erfüllung der Unterrichtungspflichten innerhalb des Verbundes – reicht ein reines Aktenhinweissystem allein nicht mehr aus, vielmehr sind hierzu in verstärktem Maße auch gemeinsame Text-, Bild- und multimediale Informationen erforderlich. […] Dies ist nicht nur zur Verfügbarkeit, sondern insbesondere zur länderübergreifenden Auswertung der vorhandenen Informationen wichtig.“ Der Senat widerspricht damit auch den Aussagen seines eigenen Geheimdienstleiters: „Das NADIS-System des Bundes […] solle aufgrund der gesetzlichen Vorgaben und der Vorgaben des Bundes mit den hiesigen vorhandenen elektronischen Dokumenten verknüpft werden.“
- Der Lieferant und Dienstleister der Technik hat wie vermutet seinen Hauptsitz in Kanada und unterliegt damit der Staatsgewalt eines Landes, das zum internationalen Spionagering Five Eyes gehört.
- Obwohl die von Edward Snowden und Wikileaks veröffentlichten ausgeklügelten Techniken der NSA und anderer Geheimdienste sogar IT-Sicherheitsexperten Bauklötze staunen lassen, heißt es aus dem provinziellen Berlin: „Der Senat hält die Sicherheit des bereits bei mehreren Verfassungsschutzbehörden im Einsatz befindlichen Systems für gegeben und einen Zugriff fremder Dienste nach der konkreten Art der Verwendung für ausgeschlossen.“ Hochmut kommt vor dem Fall.
Bislang sind bereits knapp eine halbe Million Menschen im bundesweiten Nachrichtendienstlichen Informationssystem (NADIS) eingetragen. Dank der Reform des Personalausweis- und Passgesetzes im Juli dieses Jahres wird der Inlandsgeheimdienst die biometrischen Lichtbilder dieser Betroffenen bereits aus dem Personalausweis- bzw. Passregister abgerufen haben. Mithilfe der Gesichtserkennungssoftware wird er sie fortan auf Schritt und Tritt überwachen können: Wann immer ein Betroffener auf einem im Dokumentenmanagementsystem abgelegten Foto von einer Veranstaltung oder Demonstration auftaucht — oder vielleicht schon bald an einer Videokamera im öffentlichen Raum vorbei läuft — wird sein Dossier automatisch um einen Datensatz bereichert mit Angabe von Zeit, Ort und gegebenenfalls Ereignis und Kontaktpersonen. Und nochmal: Wir sprechen nicht primär von Terroristen oder Gewalttätern, sondern von kritischen Journalisten und Vorsitzenden oppositioneller Parteien und tausenden anderen engagierten, unbequemen Bürgern, denen der Inlandsgeheimdienst lediglich (ohne unabhängige Überprüfung) eine nicht verfassungskonforme Gesinnung unterstellen muss.
Wer zukünftig gegen Gentrifizierung auf die Straße geht, eine „Merkel muss weg“-Kundgebung aufsucht oder sich an einer Tierschutzdemo beteiligt, kann sich womöglich bald nicht mehr in der Masse verstecken, um vor politischer Verfolgung geschützt zu sein, denn auch diese legalen Demonstrationen werden vom Inlandsgeheimdienst beobachtet. Eines höheren Risikos bewusst sein müssen sich auch Hinweisgeber, die sich mit überwachten Journalisten treffen.
Die Linke stimmt für die Aufrüstung des Geheimdienstes
Der andere Nebelwerfer in jener Ausschusssitzung heißt Niklas Schrader (Die Linke). Nach der Brüskierung durch den AfD-Abgeordneten Ronald Gläser („Den Bürgerrechtlern und Überwachungsstaatskritikern in Berlin teile er mit, dass ihre Position nur noch von der AfD unterstützt werde.“, Protoll S. 5) mit dem Rücken zur Wand beteuerte er: „seine Fraktion vertrete nach wie vor die Auffassung, dass der Verfassungsschutz aufgelöst werden sollte“, doch „der Haushaltsplanentwurf werde auch noch im Hauptausschuss und im Plenum beraten“ (Protokoll S. 6) und bis dahin werde er veranlassen, „dass innerhalb der Koalition diesbezüglich noch eine Klärung stattfinde“ (Protokoll S. 15). Nachdem er auf diese Weise die Verantwortung an seine Kollegen abzuschieben versucht hatte, stimmte er kurzerhand der personellen Aufstockung, der Ausweitung des Spitzelbudgets und selbstverständlich auch der Einführung von obigem Big Data beim Landesgeheimdienst zu.
Natürlich lag ihm schon Wochen vor der ersten Haushaltsberatung im Ausschuss der Haushaltsplanentwurf vor. Es wäre seine Aufgabe gewesen, die vom Senat vorgeschlagenen Budgeterhöhungen lange im Voraus innerhalb der Koalition zu thematisieren und sie durch Senkungen zu ersetzen. Wir hatten gehofft, dass er wenigstens jetzt nach seinen jüngsten Worten das Ruder herumreißt. Aber nein, es bleibt bei einem weiteren Ausbau des Landesgeheimdienstes. Zwar wurde inzwischen — im Gegensatz zur unangetasteten Aufstockung des Spitzelbudgets — der Personalzuwachs von 20 auf 10 Stellen korrigiert, aber das dürfte dem üblichen politischen Spiel entsprechen, wonach die Verwaltung eine spätere Halbierung schon beim Entwurf des Haushalts antizipiert: Sie will 10 Stellen mehr und setzt im Plan 20 an, damit sich die „geheimdienstkritischen“ Abgeordneten von der Partei Die Linke gesichtswahrend mit ihrem „erfolgreichen Einsatz“ gegen den starken Ausbau brüsten können.
Unterm Strich ist festzuhalten, dass die Aufrüstung des Geheimdienstes von den linken Abgeordneten mitgetragen wird. Als zuständiger Fachpolitiker trägt Schrader für die Zustimmung seiner Partei die volle Verantwortung und das sollte ihm in Zukunft auch ruhig bei jeder Gelegenheit öffentlich vorgehalten werden.
Nachtrag vom 18.12.2017: Letzte Woche hat das Plenum des Abgeordnetenhauses den Haushalt mit den Stimmen von SPD, Linken und Grünen beschlossen. Zwei Höhepunkte der Heuchelei in der Marathondebatte waren zweifellos die Redebeiträge von Hakan Taş (Die Linke) und Anja Schillhaneck (Bündnis 90/Die Grünen). Die unerträgliche Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit verdrängend fantasiert Taş (ab 4:07): „Ich bin froh darüber, dass wir die sinnlose Aufblähung des Verfassungsschutzes aus den vergangenen Jahren stoppen konnten.“ Und an die Adresse der AfD gerichtet, die im Geheimdienstausschuss am stärksten gegen Überwachung gekämpft hat, befindet Schillhaneck (ab 4:46): „Sie haben ja überhaupt keine sachlichen Vorschläge.“