
Aktuelle Antworten des Berliner Senats auf die Anfragen eines Abgeordneten offenbaren, dass viele Überwachungsmaßnahmen des Landesgeheimdienstes die Grundrechte der Berliner Bürger seit Jahr und Tag verletzen – ohne dass es irgend jemanden auffallen oder stören würde.
Der Landesgeheimdienst stellt sich gerne als eine intensiv kontrollierte Behörde dar. So führt er in seinem aktuellen Jahresbericht auf Seite 12 nicht weniger als neun Kontrollinstanzen auf. Einer näheren Prüfung hält die Darstellung indes nicht stand, obwohl eine enge Kontrolle angesichts seiner Kompetenzen in der Tat sehr geraten wäre.
Kein Schutz der Intimsphäre
So ist der Landesgeheimdienst befugt, heimlich und tief in die Privatsphäre der Berliner Bürger einzudringen. Wie tief wollte Ronald Gläser von der AfD-Fraktion in seiner ersten Anfrage wissen und fragte explizit, ob auch die Intimsphäre betroffen ist und Datenverarbeitungen beispielsweise über Glaube, Gesundheit, Sexualleben und den „Gefühlen für eine andere Person“ stattfinden. Der Senat drückt sich jedoch um eine Beantwortung dieser konkreten Frage und weicht ins Abstrakte aus: Der Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung sei bei der Datenverarbeitung vom Landesgeheimdienst zu beachten. Die umständliche Antwort ist vielsagend: Wenn der Geheimdienst keine Daten aus der Intimsphäre, insbesondere nicht über Glaube, Gesundheit, Sexualleben und Gefühle erhebt, speichert und für die eigenen Zwecke nutzt, wäre die Antwort ein einfaches Nein gewesen. Auf diese Daten zu verzichten scheint angesichts ihrer Nützlichkeit im täglichen Geschäft auch wenig wahrscheinlich: Sollen den Zielpersonen passende Spitzel zugeführt werden, ist die Kenntnis von Glaube und sexueller Orientierung durchaus hilfreich. Und zur Kontrolle, ob ein Spitzel gut ankommt, ist es nützlich zu wissen, ob die Zielperson dem Spitzel zu- oder abgeneigt ist. Aus der Antwort des Senats bleibt auch offen, wer eigentlich den genannten Kernbereich privater Lebensgestaltung vor dem unbefugten Zugriff durch den Landesgeheimdienst schützen soll, wenn doch Erhebung und Nutzung entsprechender Informationen geheim erfolgt.
Nachtrag vom 15.10.2018: Die weitere Antwort des Senats (Punkt 1) auf eine nachhakende Anfrage Gläsers bekräftigt diese Auffassung: Die Intim- oder Persönlichkeitssphäre kann durchaus verletzt werden, ohne dass der zu schützende „Kernbereich privater Lebensgestaltung“ betroffen wäre.
Verweigerung der Rechtsweggarantie
Der Kontrolle des geheimen Zugriffs ist dann auch die nächste Anfrage Gläsers gewidmet. Die zahlreichen geheimen Überwachungsbefugnisse des Landesgeheimdienstes — angefangen bei Spitzeln, über Observation und Belauschen bis hin zur Wohnungsüberwachung — verletzen gleich mehrere Grundrechte wie die informationelle Selbstbestimmung oder die Unverletzlichkeit der Wohnung. Somit kommen Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 Grundgesetz bzw. Artikel 15 Absatz 4 Satz 1 Verfassung von Berlin ins Spiel, die beide gleich lauten:
Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen.
Betroffene Bürger haben also das Recht auf eine gerichtliche Nachprüfung der Überwachungsmaßnahmen durch den Landesgeheimdienst — in der Tat eine wirksame Kontrolle — und dazu bedarf es der Auskunft über diese Überwachungen. Die einzige Ausnahme von diesem Recht bilden sogenannte G 10-Maßnahmen, die heimliche Überwachung der Post- und Telekommunikation, für die es gemäß Artikel 19 Absatz 4 Satz 3 Grundgesetz bzw. Artikel 15 Absatz 4 Satz 3 Verfassung von Berlin explizit kein Recht auf eine gerichtliche Nachprüfung gibt. Zurecht fragt Gläser also, ob der Berliner Landesgeheimdienst stets zu allen Überwachungen Auskunft gibt, die keine G 10-Maßnahmen sind. Diesmal antwortet der Senat dankenswerterweise klar und deutlich: Darüber wird keine Auskunft erteilt. (Da hilft insbesondere auch das Auskunftsrecht nach § 31 Absatz 1 Verfassungsschutzgesetz Berlin nicht.) Mit anderen Worten wurde die verfassungsmäßige Ausnahme für G 10-Maßnahmen unzulässig auf alle anderen Überwachungsmaßnahmen ausgeweitet. Unzulässig deshalb, weil diese Ausweitung die Einschränkung eines Grundrechts darstellt und das jeweilige Gesetz, auf welches sich die Behörde dabei beruft, gemäß Artikel 19 Absatz 1 Satz 2 Grundgesetz das eingeschränkte Grundrecht explizit unter Angabe des Artikels nennen müsste. Insbesondere das Verfassungsschutzgesetz Berlin enthält diese Angabe nicht. Fazit: Den Betroffenen wird entgegen der Zusicherung in Grundgesetz und Verfassung von Berlin keine gerichtliche Nachprüfung gewährt — die geheimdienstliche Überwachung vollzieht sich illegal in unkontrolliertem Raum.
Nachtrag vom 15.10.2018: In der bereits erwähnten weiteren Antwort des Senats (Punkt 2) auf eine nachhakende Anfrage Gläsers heißt es, dass der Rechtsweg auch bei einer Auskunftsverweigerung gegeben wäre. Das bedeutet, dass jeder, der glaubt, durch den Geheimdienst in seinen Rechten verletzt (beispielsweise bespitzelt) worden zu sein, auf Basis seiner reinen Mutmaßung klagen könnte. Der verfassungsmäßig garantierte Rechtsweg müsste demnach zur Folge haben, dass der Geheimdienst dem Gericht die zuvor verweigerte Auskunft geben muss. Ob das wohl wirklich so ist?
Keine Sicherung berechtigter Belange
Ist wenigstens gesichert, dass nach Abschluss aller Maßnahmen, wenn die betroffene Person sich als harmlos erwies und nicht mehr im Visier des Landesgeheimdienstes steht, eine wie auch immer geartete Überprüfung auf Rechtmäßigkeit und Angemessenheit erfolgen kann? Nach § 4 Absatz 2 Archivgesetz des Landes Berlin sind Dateien oder Akten vom Landesarchiv Berlin immer aufzubewahren, wenn berechtigte Belange zu sichern sind. Dies könnte beispielsweise die Forderung des Betroffenen nach einer gerichtlichen Nachprüfung sein. Gläser fragt in seiner dritten Anfrage folglich, ob Dateien oder Akten mit aus Überwachungsmaßnahmen gewonnenen personenbezogenen Daten zur Sicherung berechtigter Belange immer archiviert werden. Der Senat verneint: „Das Landesarchiv muss bei der Entscheidung über die Übernahme ausgesonderter Akten davon ausgehen, dass die darin enthaltenen Informationen rechtmäßig erhoben wurden und dass die Frist für etwaige Rechtsschutzmöglichkeiten abgelaufen ist. Deshalb spielt bei der Entscheidung die Sicherung berechtigter Belange Dritter keine Rolle.“ Mit anderen Worten kann der Landesgeheimdienst regelmäßig alle Beweise vernichten, die ein Gericht für eine nachträgliche Untersuchung benötigte, wenn das Landesarchiv die Akten und Dateien nicht übernimmt.
Beeinträchtigung schutzwürdiger Interessen des Betroffenen
Auf die Rechtmäßigkeit dieser Beweisvernichtung zielt die letzte Anfrage von Gläser. § 14 Absatz 2 Verfassungsschutzgesetz Berlin erlaubt die Löschung entsprechender Daten nur unter der Bedingung, dass dadurch schutzwürdige Interessen des Betroffenen nicht beeinträchtigt werden. Eine gerichtliche Nachprüfung der Rechtmäßigkeit ist genau so ein schutzwürdiges Interesse. Wann kann der Landesgeheimdienst dann überhaupt Daten löschen? Hier drückt sich der Senat wieder um eine klare Aussage. Er verweist statt dessen auf Gesetzesstellen, die zwar das Löschen regeln, die jedoch auch auf § 4 Absatz 1 des Artikel 10-Gesetzes verweisen. Dieser verbietet wiederum die Löschung, soweit die Daten für eine gerichtliche Nachprüfung von Bedeutung sein können. Damit bleibt die Frage unbeantwortet. Oberflächlich liest sich die Antwort des Senats allerdings so: Wo keine Benachrichtigung des Betroffenen vorgesehen ist, könne auch gelöscht werden. Und so dürfte die Löschpraxis auch aussehen.
Nachtrag vom 15.10.2018: Auch auf die nachhakende Anfrage Gläsers hin verweigert der Senat (Punkt 3) eine Klarstellung, wann eine Löschung von Dateien bzw. Vernichtung von Akten überhaupt erfolgen kann.
Fazit
Die Auskunft des Berliner Senats zeigt, dass der Landesgeheimdienst Grundrechte wie die informationelle Selbstbestimmung oder die Unverletzlichkeit der Wohnung heimlich verletzt, den Betroffenen, wenn sie es merken, den ihnen von den Verfassungen zugesicherten Rechtsweg verweigert und darüber hinaus alle für eine gerichtliche Nachprüfung erforderlichen Beweise unrechtmäßig vernichtet. Kann ein Apparat unsere Verfassung schützen, der täglich gegen sie verstößt?