Der Berliner Senat biegt sich das Grundgesetz zurecht

Merkt ja niemand.

Um den unbequemen Vorgaben des Grundgesetzes zu entgehen, lässt der Berliner Senat schon mal Fünfe gerade sein. Im Fall der Berichtspflicht an das Abgeordnetenhaus über die Belauschung und Ausspähung von Wohnungen überdehnt er den Auslegungsspielraum allerdings grotesk.


Wer der Stadtverwaltung einen Betrag von 160 Euro schuldet, der kann in Zukunft ruhigen Gewissens mit der Zahlung von lediglich 7 Euro seine Schulden als beglichen ansehen. Sollte wider Erwarten eine Mahnung erfolgen, genügt es, die Antwort des Senats auf die schriftliche Anfrage des AfD-Abgeorndeten Ronald Gläser zu zitieren, um die Stadt über die vollständige Erfüllung der Verbindlichkeit aufzuklären. In dieser Antwort stellt der Senat faktisch fest, dass 160 und 7 als gleichwertig anzusehen sind. Und das kommt so:

Wenn eine Bundesbehörde wie der Inlandsgeheimdienst eine Wohnung zur Gefahrenabwehr heimlich belauscht oder ausgespäht (das darf er gemäß § 9 Absatz 2 Bundesverfassungsschutzgesetz), dann muss die Bundesregierung den gesamten Deutschen Bundestag in einem jährlichen Bericht darüber unterrichten. Dies verlangt Artikel 13 Absatz 6 Satz 1 Grundgesetz. Beispielsweise steht im aktuellen Bericht für das Jahr 2017:

Maßnahmen zur Gefahrenabwehr nach Artikel 13 Absatz 4 GG wurden im Berichtsjahr 2017 im Zuständigkeitsbereich des Bundes nicht ergriffen.

Auf diese Weise können die Parlamentarier und die Öffentlichkeit kontrollieren, ob dieser drastische Eingriff in die Privatsphäre in einem quantitativ vertretbaren Ausmaß erfolgt, oder ob der Einsatz dieses Überwachungsinstrumentes ausufert.

Nachtrag vom 29.11.2018: Der vorangegangene Absatz ist auf überraschende Weise falsch — die ausführliche Richtigstellung erfolgt im nächsten Blogartikel.

Wollen die Bundesländer ebenfalls Wohnungen zur Gefahrenabwehr überwachen, so haben sie gemäß Artikel 13 Absatz 6 Satz 3 Grundgesetz eine „gleichwertige parlamentarische Kontrolle“ zu gewährleisten. In Berlin darf die Polizei gemäß § 25 Absatz 4 ASOG schon seit vielen Jahren Wohnungen heimlich zur Gefahrenabwehr überwachen, doch erst 2014 fiel dem Abgeordnetenhaus auf, dass dabei das grundgesetzliche Gebot der parlamentarischen Kontrolle außer Acht gelassen worden war. Daraufhin wurde per Antrag ein Ausschuss eingerichtet und seitdem berichtet der Senat öffentlich (und damit auch dem gesamten Abgeordnetenhaus mit seinen derzeit 160 Abgeordneten) jährlich über die polizeilichen Wohnungsüberwachungen. Die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke — zu der Zeit noch Opposition — spotteten damals:

Das mit dem Antrag verfolgte Anliegen, nach mehr als 15 Jahren die Vorgaben von Art. 13 Abs. 6 GG und 25 Abs. 10 ASOG umzusetzen […], ist zu begrüßen.

Daraufhin wurde im Nachhinein zurück bis zum Jahr 2010 Bericht erstattet. Bezeichnenderweise ist die Berichterstattung in den letzten Jahren aber wieder eingeschlafen — weder sind dazu Senatsberichte zu finden, noch hat sich der relevante Ausschuss für Kommunikationstechnologie und Datenschutz damit befasst.
Nachtrag vom 18.10.2018: Die Berichterstattung ist nicht eingeschlafen, sie hinkt nur 14 Monate hinterher: So ist der letzte Bericht über das Jahr 2016 und wurde erst im Februar 2018 erstattet.

Was damals (und bis heute) niemandem auffiel oder zumindest niemanden störte: Auch der Berliner Landesgeheimdienst darf gemäß § 9 Absatz 1 Verfassungsschutzgesetz Berlin zur Gefahrenabwehr Wohnungen heimlich belauschen und ausspähen. Darüber berichtet der Senat jedoch weiterhin nicht öffentlich an das gesamte Abgeordnetenhaus, sondern lediglich in geheimer Sitzung an die G 10-Kommission des Abgeordnetenhauses (mit derzeit 7 Mitgliedern). Die Frage von Gläser ist also gerechtfertigt, ob die Unterrichtung an eine kleine Kommission, welche die Informationen darüber hinaus geheim zu halten hat, nicht ein fortwährender Verstoß gegen das Grundgesetz darstellt, welches auf Länderebene eine „gleichwertige parlamentarische Kontrolle“ wie auf Bundesebene fordert. Die lapidare Antwort des Senats: Er betrachte die Kontrolle als gleichwertig. Ob 160 oder 7 Abgeordnete, was macht das schon für einen Unterschied! Und wo bleibt der Spott der Grünen und Linken? Ach so, die sind ja jetzt selbst an der Regierung.