
Richtigstellung zum vorangegangenen Beitrag: Auch der Inlandsgeheimdienst des Bundes verweigert verfassungswidrig die Offenlegung, wie viele Wohnungen er belauscht oder ausspäht.
Gemäß Artikel 13 Absatz 1 Grundgesetz gilt:
Die Wohnung ist unverletzlich.
Eine Einschränkung in Artikel 13 Absatz 4 Grundgesetz lautet jedoch:
Zur Abwehr dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit, insbesondere einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr, dürfen technische Mittel zur Überwachung von Wohnungen nur auf Grund richterlicher Anordnung eingesetzt werden.
Tatsächlich ist unter anderem der Inlandsgeheimdienst des Bundes zur heimlichen Wohnungsüberwachung ermächtigt worden. In § 9 Absatz 2 Satz 1 und 2 Bundesverfassungsschutzgesetz heißt es:
Das in einer Wohnung nicht öffentlich gesprochene Wort darf mit technischen Mitteln nur heimlich mitgehört oder aufgezeichnet werden, wenn es im Einzelfall zur Abwehr einer gegenwärtigen gemeinen Gefahr oder einer gegenwärtigen Lebensgefahr für einzelne Personen unerläßlich ist und geeignete polizeiliche Hilfe für das bedrohte Rechtsgut nicht rechtzeitig erlangt werden kann. Satz 1 gilt entsprechend für einen verdeckten Einsatz technischer Mittel zur Anfertigung von Bildaufnahmen und Bildaufzeichnungen.
Im Fall, dass eine Bundesbehörde eine Wohnung zur Gefahrenabwehr heimlich überwacht, muss aber Artikel 13 Absatz 6 Satz 1 Grundgesetz beachtet werden:
Die Bundesregierung unterrichtet den Bundestag jährlich […] über den im Zuständigkeitsbereich des Bundes nach Absatz 4 […] erfolgten Einsatz technischer Mittel.
Im aktuellen Bericht der Bundesregierung für das Jahr 2017 ist zu lesen:
Maßnahmen zur Gefahrenabwehr nach Artikel 13 Absatz 4 GG wurden im Berichtsjahr 2017 im Zuständigkeitsbereich des Bundes nicht ergriffen.
Alles klar, sollte man denken, dann hat der Inlandsgeheimdienst des Bundes also keine Wohnungsüberwachungen durchgeführt. Weit gefehlt!
Irreführende Berichterstattung der Bundesregierung
Zur Vergewisserung stellten wir eine Anfrage beim Bundesamt für Justiz, welches die jährlichen Berichte der Bundesregierung an den Bundestag auf seinen Seiten chronologisch veröffentlicht. Entgegen dem Wortlaut der Bundesregierung im Bericht stellt das Bundesamt für Justiz in seiner Antwort fest:
Daten der Geheimdienste sind in dieser Übersicht nicht enthalten.
und
Deshalb erlaubt der hier erstellte und von Ihnen zitierte Bericht keine Aussagen über Maßnahmen des Bundesamtes für Verfassungsschutz.
Begründung:
Die Unterrichtung des Bundestages erfolgt insoweit über das parlamentarische Kontrollgremium, das von der Bundesregierung gemäß § 4 des Gesetzes über die parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes (Kontrollgremiumgesetz – PKGrG) zu unterrichten ist.
Auch das Bundesamt für Verfassungsschutz bestätigt auf unsere Anfrage, dass der Bericht der Bundesregierung keine Aussage über die Anzahl seiner Wohnungsüberwachungen macht.
Nochmal zum Mitschreiben: Der Bericht trägt den Titel: „Bericht der Bundesregierung gemäß Artikel 13 Absatz 6 Satz 1 des Grundgesetzes für das Jahr 2017“ und er beginnt mit: „Gemäß Artikel 13 Absatz 6 Satz 1 des Grundgesetzes (GG) unterrichtet die Bundesregierung den Deutschen Bundestag jährlich über den Einsatz technischer Mittel zur Überwachung von Wohnungen (Wohnraumüberwachung), sofern die Maßnahmen vorgenommen wurden […] im Zuständigkeitsbereich des Bundes im Rahmen des Artikels 13 Absatz 4 GG (Gefahrenabwehr) […]. Maßnahmen zur Gefahrenabwehr nach Artikel 13 Absatz 4 GG wurden im Berichtsjahr 2017 im Zuständigkeitsbereich des Bundes nicht ergriffen.“ Wer hier das Wort Lüge nicht bemühen will, muss der Bundesregierung wenigstens eine grob irreführende Aussage vorwerfen.
Steht der Inlandsgeheimdienst über dem Grundgesetz?
Aber wie ist das zu erklären? Wir gehen zurück in die 90er Jahre: Der große Lauschangriff bestimmt 1995 die Schlagzeilen, die damalige Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) legt ihr Amt nieder, nachdem nahezu zwei Drittel bei einer FDP-internen Mitgliederbefragung dafür stimmen, den Staat zur Überwachung von Wohnungen zu ermächtigen. 1998 ist es dann soweit und der Artikel 13 Grundgesetz erhält die neuen Absätze 3 bis 6, mit denen erstmals technische Mittel zur Überwachung von Wohnungen erlaubt werden. Wurde dem Inlandsgeheimdienst damals vielleicht im Rahmen der Gesetzesaushandlung das Sonderrecht zugestanden, nur dem Parlamentarischen Kontrollgremium berichten zu müssen?
Ein Blick in die Historie des Bundesverfassungsschutzgesetzes klärt auf: Bereits als dieses am 20.12.1990 — lange vor der Änderung des Grundgesetzes — erlassen wurde, steht der oben zitierte § 9 Absatz 2 Satz 1 und 2 mit der Befugnis zur Wohnungsüberwachung drin! Ein Richtervorbehalt, wie es ab 1998 der Artikel 13 Absatz 4 Grundgesetz gebietet, war damals noch nicht vorgesehen (der kam sogar erst am 02.08.2000 dazu), lediglich die eben bis heute praktizierte Unterrichtung des Parlamentarischen Kontrollgremiums. Die ganze Diskussion in den 90ern über den großen Lauschangriff fand vor lange zuvor vollendeten Tatsachen statt — die Wohnungsüberwachung, sogar in Form eines großen Spähangriffs, war bereits Realität in Deutschland, allerdings eben nur vonseiten der Geheimdienste und noch nicht vonseiten der Staatsanwaltschaft und Polizei.
Seine exklusive Kompetenz hatte der Geheimdienst vermutlich auf den damaligen Absatz 3 und heutigen Absatz 7 des Artikel 13 Grundgesetz gestützt, in dem es heißt:
Eingriffe und Beschränkungen dürfen im übrigen nur zur Abwehr einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr für einzelne Personen […] vorgenommen werden.
Die damalige Rechtmäßigkeit erscheint allerdings schon rein formell zweifelhaft, denn der nach Artikel 19 Absatz 1 Satz 2 Grundgesetz zwingend erforderliche Zusatz „Das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 13 des Grundgesetzes) wird insoweit eingeschränkt.“ wurde in das Bundesverfassungsschutzgesetz erst am 09.01.2002 eingefügt.
Als dann 1998 im Zuge der Grundgesetzänderung zusammen mit der Befugnis zur Wohnungsüberwachung auch die Pflicht zur Unterrichtung des Bundestages über den Einsatz dieses Mittels in den Artikel 13 geschrieben wurde, fühlte sich der Inlandsgeheimdienst vielleicht in seiner Befugnis bestätigt, aber deshalb noch lange nicht an die einhergehende Berichtspflicht gebunden. Vermutlich bezieht er seine Kompetenz zur Wohnungsüberwachung einfach nach wie vor auf den allgemeinen Absatz 7 statt auf den konkreten Absatz 4 des Artikel 13 und schon entfällt die Pflicht zur Berichterstattung nach Absatz 6. Und damit — zauber, zauber — stimmt auf einmal auch die Aussage im Bericht der Bundesregierung an den Bundestag: „Maßnahmen zur Gefahrenabwehr nach Artikel 13 Absatz 4 GG wurden im Berichtsjahr 2017 im Zuständigkeitsbereich des Bundes nicht ergriffen.“ Kann dieser Apparat wirklich unsere Verfassung schützen?