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Gesetz
zur Änderung des Gesetzes über den Verfassungsschutz in Berlin (VSG Bln)
Artikel 1
Änderung des Gesetzes über den Verfassungsschutz in Berlin
Das Gesetz über den Verfassungsschutz in Berlin (VSG Bln) in der Fassung vom 25. Juni 2001 (GVBl. S. 235), zuletzt geändert durch Artikel I Zweites Gesetz zur Änderung des Verfassungsschutzgesetzes Berlin vom 1. Dezember 2010 (GVBl. S. 534), wird wie folgt geändert:
1. § 27a Absatz 6 wird aufgehoben.
2. In § 35 werden nach Absatz 5 die folgenden Absätze 6 bis 13 eingefügt:
(6) Die Senatsverwaltung für Inneres unterrichtet im Abstand von höchstens sechs Monaten den Ausschuss für Verfassungsschutz des Abgeordnetenhauses über die Durchführung der Maßnahmen nach § 8 Abs. 2 Nummer 6, 7, 10 und 11, § 9 Abs. 1 und 3, § 9a Abs. 1, § 10 Abs. 1, § 27 Abs. 1 und 2 und § 27a Abs. 1 bis 4.
(7) Der Ausschuss für Verfassungsschutz erstattet dem Abgeordnetenhaus von Berlin jährlich einen Bericht über die Durchführung sowie Anlass, Art, Umfang, Zahl der Haupt- und Nebenbetroffenen, Dauer, Ergebnis und Kosten der in Absatz 6 genannten Maßnahmen; § 34 gilt entsprechend.
(8) Im Bericht über Maßnahmen nach § 8 Abs. 2 Nummer 6, 7, 10 und 11 und § 9a Abs. 1 sind insbesondere je Phänomenbereich anzugeben:
1. die Anzahl der neu begonnenen, wiederaufgenommenen und fortgeführten Überwachungsmaßnahmen;
2. die Anzahl der Haupt- und Nebenbetroffenen;
3. die Anzahl der Maßnahmen aufgeschlüsselt nach den Gründen:
a) Einsatz gegen Organisationen und in ihnen tätige Personen nach § 8 Abs. 3 Satz 1 Nummer 1;
b) Einsatz gegen unorganisierte Gruppen und in ihnen tätige Personen nach § 8 Abs. 3 Satz 1 Nummer 1;
c) Einsatz gegen einzeln tätige Personen nach § 8 Abs. 3 Satz 1 Nummer 1;
d) Gewinnung von Erkenntnissen über gewalttätige Bestrebungen nach § 8 Abs. 3 Satz 1 Nummer 2;
e) Gewinnung von Erkenntnissen über geheimdienstliche Tätigkeiten nach § 8 Abs. 3 Satz 1 Nummer 2;
f) Erschließung von Quellen nach § 8 Abs. 3 Satz 1 Nummer 3;
g) Selbstschutz nach § 8 Abs. 3 Satz 1 Nummer 4;
4. die Anzahl der überwachten Objekte aufgeschlüsselt nach Objektarten, insbesondere Kommunikationsgeräte und Telekommunikationsanschlüsse;
5. die Anzahl der aus der Überwachung ausgeschiedenen Haupt- und Nebenbetroffenen;
6. die Anzahl der erfolgten Mitteilungen an Haupt- und Nebenbetroffene;
7. die Gründe der vorläufig zurückgestellten Mitteilungen mit ihrer jeweiligen Anzahl an Haupt- und Nebenbetroffenen;
8. die Gründe der endgültig unterlassenen Mitteilungen mit ihrer jeweiligen Anzahl an Haupt- und Nebenbetroffenen;
9. die Anzahl der anhängigen und neu erhobenen Klagen gegen Maßnahmen;
10. die Anzahl der zurückgenommenen Klagen;
11. die Anzahl der entschiedenen Klagen mit Feststellung der Rechtmäßigkeit der Maßnahme;
12. die Anzahl der entschiedenen Klagen mit Feststellung der Rechtswidrigkeit der Maßnahme.
(9) Im Bericht über Maßnahmen nach § 9 Abs. 1 und 3 sind insbesondere anzugeben:
1. ob das nicht öffentlich gesprochene Wort heimlich mitgehört oder aufgezeichnet oder Bildaufnahmen und Bildaufzeichnungen angefertigt wurden;
2. ob die Maßnahme zur Wahrnehmung der Aufgaben auf dem Gebiet der Spionageabwehr oder des gewaltbereiten politischen Extremismus erfolgte; im letzteren Fall mit Angabe des Phänomenbereichs;
3. die Anzahl der überwachten Objekte je Maßnahme nach Privatwohnungen und sonstigen Wohnungen sowie nach Wohnungen der Hauptbetroffenen und Wohnungen der Nebenbetroffenen;
4. die Dauer der einzelnen Überwachung nach Dauer der Anordnung, Dauer der Verlängerung und Abhör- bzw. Ausspähdauer;
5. wie häufig Erkenntnisse aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung erfasst wurden und wie häufig eine Maßnahme unterbrochen wurde, um nicht Erkenntnisse aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung zu erfassen;
6. ob die Überwachung Ergebnisse erbracht hat, die für ein Strafverfahren relevant sind oder voraussichtlich relevant sein werden;
7. ob inzwischen ein Strafverfahren eingeleitet wurde;
8. wenn die Überwachung keine relevanten Ergebnisse erbracht hat: die Gründe hierfür, differenziert nach technischen Gründen und sonstigen Gründen;
9. ob eine Benachrichtigung der Betroffenen (§ 9 Abs. 6 Satz 1) erfolgt ist oder aus welchen Gründen von einer Benachrichtigung abgesehen worden ist;
10. die Anzahl der anhängigen und neu erhobenen Klagen gegen Maßnahmen;
11. die Anzahl der zurückgenommenen Klagen;
12. die Anzahl der entschiedenen Klagen mit Feststellung der Rechtmäßigkeit der Maßnahme;
13. die Anzahl der entschiedenen Klagen mit Feststellung der Rechtswidrigkeit der Maßnahme;
14. die Kosten der Maßnahme, differenziert nach Kosten für Übersetzungsdienste und sonstigen Kosten.
(10) Im Bericht über Maßnahmen nach § 10 Abs. 1 sind insbesondere anzugeben:
1. die genaue Berechtigung zu der Maßnahme nach § 10 Abs. 1;
2. den Zweck und die in Anspruch genommene Stelle;
3. die Anzahl der Maßnahmen, bei denen die gespeicherten Informationen noch nicht gelöscht und die Unterlagen noch nicht vernichtet wurden;
4. die Anzahl der Maßnahmen, bei denen die gespeicherten Informationen wieder gelöscht und die Unterlagen vernichtet wurden.
(11) Im Bericht über Maßnahmen nach § 27 Abs. 1 und 2 sind insbesondere anzugeben:
1. von welcher öffentlichen Stelle wie häufig personenbezogene Daten nach § 27 Abs. 1 übermittelt wurden;
2. ob sich die übermittelten personenbezogenen Daten nach § 27 Abs. 1 auf geheimdienstliche Tätigkeiten, Bestrebungen nach § 5 Abs. 2 oder andere Tätigkeiten bezogen, wenn möglich mit Angabe des Phänomenbereichs;
3. von welcher öffentlichen Stelle wie häufig verlangt wurde, personenbezogene Daten nach § 27 Abs. 2 zu übermitteln;
4. für jede der Angaben nach Nummer 1 bis 3 wie häufig personenbezogene Informationen übermittelt wurden, die auf Grund einer Maßnahme nach § 100a der Strafprozessordnung bekannt geworden sind;
5. für jede der Angaben nach Nummer 1 bis 3 wie häufig die Unterlagen unverzüglich vernichtet oder als gesperrt gekennzeichnet wurden.
(12) Im Bericht über Maßnahmen nach § 27a Abs. 1 bis 4 sind insbesondere je Phänomenbereich anzugeben:
1. die Anzahl der Überwachungsmaßnahmen je Art und soweit anwendbar die Zeiträume, über die die Auskunft eingeholt wurde;
2. die Anzahl der Haupt- und Nebenbetroffenen;
3. die Anzahl der aus der Überwachung ausgeschiedenen Haupt- und Nebenbetroffenen;
4. die Anzahl der erfolgten Mitteilungen an Haupt- und Nebenbetroffene;
5. die Gründe der vorläufig zurückgestellten Mitteilungen mit ihrer jeweiligen Anzahl an Haupt- und Nebenbetroffenen;
6. die Gründe der endgültig unterlassenen Mitteilungen mit ihrer jeweiligen Anzahl an Haupt- und Nebenbetroffenen;
7. die Anzahl der anhängigen und neu erhobenen Klagen gegen Maßnahmen;
8. die Anzahl der zurückgenommenen Klagen;
9. die Anzahl der entschiedenen Klagen mit Feststellung der Rechtmäßigkeit der Maßnahme;
10. die Anzahl der entschiedenen Klagen mit Feststellung der Rechtswidrigkeit der Maßnahme.
(13) Der Ausschuss für Verfassungsschutz berichtet dem Abgeordnetenhaus von Berlin jährlich und im Übrigen anlassbezogen über seine Kontrolltätigkeit. Dabei nimmt er auch dazu Stellung, ob der Senat seinen Pflichten gegenüber dem Ausschuss nachgekommen ist. Ausschussmitglieder, die den Bericht für unzutreffend halten, können ihre Auffassung in einem Zusatz zu diesem Bericht darstellen.
Artikel 2
Rückwirkende Anwendung
Der Ausschuss für Verfassungsschutz erstattet dem Abgeordnetenhaus von Berlin innerhalb von drei Monaten nach Inkrafttreten dieses Gesetzes den in Artikel 1 eingeführten Bericht für die vergangenen Jahre ab 2010 soweit die dafür erforderlichen Daten noch vorhanden sind. Die Senatsverwaltung für Inneres stellt dem Ausschuss für Verfassungsschutz alle dafür erforderlichen Daten zur Verfügung.
Artikel 3
Inkrafttreten
Dieses Gesetz tritt am Tage nach der Verkündung im Gesetz- und Verordnungsblatt für Berlin in Kraft.
Begründung
Diese Gesetzesänderung führt für Überwachungsmaßnahmen der Berliner Verfassungsschutzbehörde eine Unterrichtungspflicht des Senats an den Ausschuss für Verfassungsschutz und eine Berichtspflicht des Ausschusses für Verfassungsschutz an das Abgeordnetenhaus von Berlin ein. Wie in zahlreichen anderen Bundesländern erstreckt sich die Berichtspflicht nicht allein auf G 10-Maßnahmen, sondern auch auf weitere, die Grundrechte der Betroffenen verletzende Überwachungsmaßnahmen, zu denen die Berliner Verfassungsschutzbehörde ermächtigt worden ist. Die Erforderlichkeit der Unterrichtungs- und Berichtspflicht wird im folgenden für jede Art von Überwachungsmaßnahme einzeln begründet. Der neue § 35 Abs. 13 VSG Bln rundet die Berichterstattung mit Informationen über die Kontrolltätigkeit des Ausschusses und die Pflichttreue des Senats ab. Er orientiert sich an den Vorgaben im Hamburgischen (§ 25 Abs. 7) und Niedersächsischen (§ 40) Verfassungsschutzgesetz.
Überwachungsmaßnahmen nach § 8 Abs. 2 Nummer 6, 7, 10 und 11 und § 9a Abs. 1 VSG Bln
Das Parlamentarische Kontrollgremium (PKGr) und die G 10-Kommission des Bundes sind gemäß § 1 Abs. 2 G 10 nur für die Kontrolle der Überwachungsmaßnahmen durch Bundesbehörden zuständig. § 16 G 10 bestimmt, dass der Landesgesetzgeber die parlamentarische Kontrolle der Überwachungsmaßnahmen durch das Land regelt. Im bisherigen Berliner Gesetz zur Ausführung des Artikel 10-Gesetzes werden entsprechende Kontrollaufgaben dem Ausschuss für Verfassungsschutz bzw. der Berliner G 10-Kommission zugeteilt. Eine Berichtspflicht analog der jährlichen Unterrichtung des Deutschen Bundestages durch das PKGr über Durchführung, Art und Umfang der Überwachungsmaßnahmen durch Bundesbehörden nach § 14 Abs. 1 Satz 2 G 10 fehlt allerdings in Berlin. Dieses Änderungsgesetz gleicht die Veröffentlichungsbestimmungen im Landesgesetz an jene des Bundesgesetzes an.
Die Telekommunikationsüberwachung ist ein schwerer Eingriff in das Grundrecht der Unverletzlichkeit des Fernmeldegeheimnisses (Artikel 10 Grundgesetz, Artikel 16 Verfassung von Berlin) sowie in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung (Artikel 2 Abs. 1 in Verbindung mit Artikel 1 Abs. 1 Grundgesetz, Artikel 7 in Verbindung mit Artikel 6 Verfassung von Berlin). Artikel 15 Abs. 4 Satz 1 Verfassung von Berlin bestimmt, dass jedem der Rechtsweg offen steht, der durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt wird. Dazu bedürfte es der Auskunft über die Verletzung des Fernmeldegeheimnisses. Diese Auskunftspflicht hebt Artikel 15 Abs. 4 Satz 3 Verfassung von Berlin mit Verweis auf Artikel 10 Abs. 2 Satz 2 Grundgesetz jedoch für die G 10-Maßnahmen auf und setzt als Ausgleich für den verhinderten Rechtsweg die Berliner G 10-Kommission ein, die die Grundrechtsverletzungen anstelle der Gerichte kontrolliert. Diese Instanz kann nur als ein unzureichender, jedoch aufgrund der Erfordernisse hinzunehmender Behelf aufgefasst werden. Deshalb sind darüber hinaus alle weiteren Maßnahmen zu ergreifen, die dazu beitragen, die Unzulänglichkeit abzumildern. Eine dieser Maßnahmen besteht in der Veröffentlichung des Ausmaßes dieser Grundrechtsverletzungen. Das Abgeordnetenhaus von Berlin und die Berliner Bürger sollen an den anonymen, rein quantitativen Angaben erkennen können, dass die ermächtigte Behörde verantwortungsvoll mit ihrer Kompetenz umgeht.
Das Mithören und Aufzeichnen des nicht öffentlich gesprochenen Wortes unter Einsatz technischer Mittel (§ 8 Abs. 2 Nummer 6 VSG Bln), die Beobachtungen des Funkverkehrs auf nicht für den allgemeinen Empfang bestimmten Kanälen sowie die Sichtbarmachung, Beobachtung, Aufzeichnung und Entschlüsselung von Signalen in Kommunikationssystemen (§ 8 Abs. 2 Nummer 7 VSG Bln), der Einsatz von weiteren vergleichbaren Methoden, Gegenständen und Instrumenten zur heimlichen Informationsbeschaffung, insbesondere das sonstige Eindringen in technische Kommunikationsbeziehungen durch Bild-, Ton- und Datenaufzeichnungen (§ 8 Abs. 2 Nummer 11 VSG Bln) und Eingriffe, die in ihrer Art und Schwere einer Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses gleichkommen (§ 9a Abs. 1 VSG Bln) stellen gleichrangige Grundrechtsverletzungen dar wie die Überwachung des Brief-, Post- und Fernmeldeverkehrs (§ 8 Abs. 2 Nummer 10 VSG Bln), daher müssen für jene Maßnahmen die gleichen Unterrichtungs- und Berichtspflichten gelten.
Der zu beschließende jährliche Bericht nach dem neuen § 35 Abs. 8 VSG Bln orientiert sich an der Form, wie sie das PKGr auf Bundesebene zuletzt mit Drucksache 18/11227 zur Unterrichtung des Bundestages nach § 14 Abs. 1 Satz 2 G 10 verwendet hat.
Überwachungsmaßnahmen nach § 9 Abs. 1 und 3 VSG Bln
Artikel 13 Abs. 6 GG bestimmt, dass die Bundesregierung den Bundestag jährlich über die Wohnungsüberwachungen zur Gefahrenabwehr im Zuständigkeitsbereich des Bundes unterrichtet, und verlangt von den Ländern eine gleichwertige parlamentarische Kontrolle. Am 26. März 2015 beschloss das Abgeordnetenhaus von Berlin die Einsetzung eines Ausschusses zur Umsetzung von Artikel 13 Abs. 6 GG und § 25 Abs. 10 ASOG. Die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke merkten dazu in ihrem Änderungsantrag (Drucksache 17/1934-1) sehr richtig an, dass damit „nach mehr als 15 Jahren die Vorgaben von Art. 13 Abs. 6 GG“ umgesetzt werden. Bedauerlicherweise wurde damals jedoch übersehen, dass neben der Berliner Polizei auch die Berliner Verfassungsschutzbehörde Wohnungsüberwachungen zur Gefahrenabwehr durchführt. Diese verstoßen unter der bestehenden Berliner Gesetzeslage nach wie vor gegen das Grundgesetz. Um auch hier die vom Grundgesetz geforderte gleichwertige parlamentarische Kontrolle herzustellen, wird mit diesem Änderungsgesetz die erforderliche Unterrichtungspflicht eingeführt.
Der zu beschließende jährliche Bericht nach dem neuen § 35 Abs. 9 VSG Bln orientiert sich an den Berichtdetails, wie sie § 101b Abs. 4 StPO für die Überwachungsmaßnahmen nach der Strafprozessordnung fordert.
Überwachungsmaßnahmen nach § 10 Abs. 1, § 27 Abs. 1 und 2 und § 27a Abs. 1 bis 4 VSG Bln
Die Koalitionsvereinbarung 2016-2021 zwischen SPD, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen verspricht auf Seite 148: „Die parlamentarische Kontrolle der Tätigkeit des Verfassungsschutzes wird ausgebaut.“ Mit diesem Änderungsgesetz „werden präzisere gesetzliche Dokumentationspflichten eingeführt, um die Kontrollmöglichkeiten des Parlaments zu verbessern“, wie es der Koalitionsvertrag vorsieht.